Die Wahrnehmung kann verzerrt sein
Es kann zu Urteilsverzerrungen bei einem Menschen durch selektive Wahrnehmung kommen. Philipp Hübl erklärt: „Oft haben wir unser Wissen einfach nicht aktualisiert. Vor wenigen Jahrzehnten hatten tatsächlich deutlich weniger Menschen einen Stromanschluss im Haus als heutzutage, und Kinder waren deutlich seltener geimpft. Unsere Annahmen über die Weltlage sind also in gewisser Weise korrekt, nur gelten sie für eine längst vergangene Zeit.“ Da sich die Welt schnell ändert, kommen Menschen mit den Updates ihres Wissens nicht immer hinterher. Für Negatives sind Menschen besonders sensibilisiert. Diese Einschätzung hat in der Forschung sogar einen Namen, nämlich Negativverzerrung – negativity bias. Sie ist ein Grund, warum viele Menschen glauben, dass alles schlechter wird. Philipp Hübl ist Philosoph und Autor des Bestsellers „Folge dem weißen Kaninchen … in die Welt der Philosophie“ (2012).
Übertreibung ist besser als Nichtbeachtung
Viele der menschlichen Emotionen funktionieren wie Feuermelder. Sie haben sich in der Evolution entwickelt, weil sie das Leben unserer Vorfahren schützten, indem sie verlässlich auf Gefahren ansprangen. Philipp Hübl fügt hinzu: „Und sie sind bis heute hypersensibel eingestellt. Angst beispielsweise schützt uns vor Gefahren. Beim Anblick von Schlangen und Spinnen zu erschrecken, ist sogar angeboren.“ Angst und andere Emotionen sind die Feuermelder des Körpers, die den Menschen signalisieren: „Achtung Gefahr!“
Sie helfen den Menschen, all das zu schützen, was einen Wert für sie hat, zum Beispiel ihr Leben, ihre Gesundheit und ihre Kinder. Die Parallele zur Moral liegt für Philipp Hübl auf der Hand: „Moralische Regeln sollen uns ebenfalls vor Gefahren und Schaden bewahren. Und so wie die Emotionen sind unsere moralischen Detektoren fein justiert, denn auch hier gilt: Übertreibung ist besser als Nichtbeachtung. Wir halten die Weltlage für schlimmer, als sie ist, weil nicht nur die Nachrichten, sondern wir selbst ganz automatisch den Fokus auf Nöte und Gefahren lenken und uns dabei selten die Mühe machen, unser Bauchgefühl mit den statistischen Daten abzugleichen.
Menschen haben einen universellen Gerechtigkeitssinn
In den letzten Jahrzehnten sind die Ansprüche vieler Menschen noch schneller gestiegen als der moralische Fortschritt. Das ist ein weiterer Grund für das Moralparadox, den Alexis de Tocqueville schon Mitte des 19. Jahrhunderts beschrieben hat. Philipp Hübl weiß: „Der französische Politikwissenschaftler hat 1831 in den Vereinigten Staaten ein Jahr lang die damals junge Demokratie beobachtet, in der es zumindest unter den freien Bürgern – die Sklaverei war noch nicht abgeschafft – keine Ständeunterschiede mehr gab, im Gegensatz zu vielen Ländern Europas.“
Alexis de Tocqueville stellte fest, dass Menschen einen universellen Gerechtigkeitssinn haben, der unter den richtigen Bedingungen zu moralischem Fortschritt führt. Er schrieb: „Der Hass der Menschen gegen das Privileg wird umso größer, je seltener und unbedeutender die Privilegien werden. Sind alle gesellschaftlichen Bedingungen ungleich, so verletzt keine noch so große Ungleichheit den Blick des Betrachters; inmitten allseitiger Gleichförmigkeit dagegen wirkt die kleinste Verschiedenheit anstößig; der Anblick wird umso unerträglicher, je weiter die Gleichförmigkeit fortgeschritten ist.“ Quelle: „Moralspektakel“ von Philipp Hübl
Von Hans Klumbies